10/16: Digital Transformation
The text was written in German, an excerpt is available in English at the end of the text.
Pokémon Go ist die Spitze des Eisbergs: Seit ein paar Wochen ziehen unzählige Smartphone-Besitzer durch Stadt und Land und sind auf der Suche nach digitalen Monstern in der realen Welt. Es ist nicht nur ein Hype, der sich da vor unserer aller Augen abspielt. Es ist vielmehr ein Sinnbild dafür, wie sehr die Grenze zwischen analoger und digitaler Welt verschwimmt, in welchem Maß unsere Welt inzwischen digitalisiert ist.
„Es ist eine der ganz großen Herausforderungen der Gegenwart, sämtliche Facetten der Digitalisierung umfassend zu untersuchen, all die Möglichkeiten zu verstehen, die seit Erfindung des Heimcomputers vor gut 30 Jahren die persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensbereiche erfasst und revolutioniert haben, und ihre Chancen auch aktiv zu nutzen”, so Professor Alexander Mädche, Professor für Wirtschaftsinformatik am Institut für Informationswirtschaft und Marketing (IISM) am KIT. Und so vielfältig wie die Facetten sind, die es zu untersuchen gilt, so unterschiedlich sind auch die universitären Fachbereiche, die sich damit beschäftigen: angefangen bei der Informatik über die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bis hin zur Philosophie und den Rechtswissenschaften.
Zum Forschungsschwerpunkt von Alexander Mädche – auch Direktor am Karlsruhe Service Research Institute (KSRI) – gehört die Untersuchung und Gestaltung der digitalen Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft auf den Ebenen der Infrastruktur, der Prozesse, sowie von Produkten und Dienstleistungen. Während sich die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften stark auf die Untersuchung des Phänomens Digitalisierung beschränken, sucht die Wirtschaftsinformatik den problembezogenen Kontakt zu Hersteller- und Anwenderfirmen und möchte positiv verändern und gestalten.
Beispiel SAP: Der Walldorfer Software-Gigant entwickelt softwarebasierte Echtzeitanwendungen für die Logistik. SAP sorgt für die nötige Prozessintelligenz und kann dadurch den Anwendern eine unglaubliche Informationsmenge in Echtzeit zur Verfügung stellen – zu viele Informationen für das menschliche Gehirn, das noch auf dem Stand eines Neandertalers arbeitet und auf eine derartige Fülle von Informationen nicht adäquat reagieren kann. „Wir möchten herausfinden, wie die Informationen aufgearbeitet und präsentiert werden müssen, damit der Anwender das richtige Situationsbewusstsein hat und auf dieser Basis die richtige Entscheidung treffen kann”, so Mädche. „Es geht in unserer Forschung oft darum, die verfügbare Informationstechnologie in Form eines digitalen Assistenzsystems bereitzustellen und auf dieser Basis dem Anwender im richtigen Augenblick den richtigen Impuls zu geben und ihn so durch den Dschungel der Informationen zu leiten.”
Beispiel Bosch: Ein Ziel des Stuttgarter Autozulieferers ist es, vernetzte und automatisierte Parklösungen für zukünftige Mobilitätsszenarien anzubieten. Doch wie kommt die Software an die benötigten Informationen? Technische Systeme stoßen hier heute noch an ihre Grenzen. Eine Möglichkeit ist es, die Nutznießer des Systems auch an der Erfassung der Daten zu beteiligen und zwar auf freiwilliger Basis mit spielerischen Anreizen. „Gamification stellt einen möglichen Lösungsansatz dar”, so Mädche. Man möchte den Anwender auf spielerische Weise zum Erfassen von Daten bewegen. Ähnlich ist die Herangehensweise, wenn es beispielsweise um die optimale Einstellung einer Heizungsanlage in einem Mehrfamilienhaus geht. Wie kommt die Heizungsanlage an die notwendigen Informationen: an das tatsächliche Nutzungsverhalten der Bewohner? Auch hier besteht die Herausforderung darin, mit einer App auf spielerische Weise die Hausbewohner zur Preisgabe ihrer Nutzungsgewohnheiten zu animieren und auf dieser Basis eine optimale Einstellung der Heizungsanlage zu ermöglichen. Auch Professor York Sure-Vetter beschäftigt sich mit dem Thema der „Digitalen Transformation”. Er ist Professor am Institut für Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren (AIFB) des KIT und – gemeinsam mit Professor Mädche – Direktor am Karlsruhe Service Research Institute (KSRI). Zudem ist er Direktor am FZI Forschungszentrum Informatik am KIT. Er betrachtet mit seiner Arbeitsgruppe verstärkt die technische Ebene der Digitalisierung: „Wir verfolgen drei Stränge bei unserer Forschungsarbeit. Da ist einmal die Frage, wie Wissen im Web repräsentiert wird und wie wir es für Maschinen versteh- und nutzbar machen können, Stichwort Semantic Web. Dann beschäftigen wir uns damit, wie wir Maschinen dazu befähigen können, Wissen selber zu lernen, Stichwort Maschinelles Lernen. Und letztlich möchten wir unsere Erkenntnisse, unser Wissen auch der Industrie als intelligente Dienste, Stichwort Smart Services, zur Verfügung stellen.”
Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Semantic Web“? Eine Maschine kann aus dem Web unendlich viele Daten herauslesen. Entscheidend für die sinnvolle Nutzung ist es aber, dass die Datensemantisch miteinander verknüpft werden und ihnen somit eine Bedeutung zukommt. „Karlsruhe ist eine Stadt“ wäre eine solche Verbindung. Sobald die Maschine mit sämtlichen Verknüpfungen zwischen den Begriffen „gefüttert” wurde, kann sie selber ein Netzwerk von Begrifflichkeiten, einen Wissensgraphen, abbilden. Durch die semantische Suche ist Wissen im Web für alle zugreifbar, automatisch übersetzbar und in allen Sprachen verfügbar. Genutzt wird diese Technik beispielsweise bei Semantic MediaWiki, bei Wikidata oder DBpedia. In gleicher Weise entsteht auch die Faktenbox bei Wikipedia.
Professor Sure-Vetter fügt hinzu, dass „Maschinen solche Zusammenhänge auch selber erkennen können, ohne dass man ihnen diese vorher beibringen muss.“ Maschinen analysieren große Datenmengen, suchen nach Verknüpfungen und entdecken sich wiederholende Muster. Anwendung findet diese Technik zum Beispiel im europäischen xLiMe-Projekt, das europaweit die mediale Berichterstattung analysiert. Die Maschine kann aufgrund von Verknüpfungen der Daten (Wörtern) Zeitungsberichte, Radiosendungen und TV-Beiträge gleichen Inhalts entdecken. Das ist insbesondere dann interessant, wenn keine eindeutigen Schlüsselwörter verwendet werden. So kann automatisch verfolgt werden, welche Medien wann und in welchem Umfang über ein bestimmtes Ereignis berichten.
Für die Industrie interessant werden die Forschungsergebnisse von Sure-Vetter, wenn sie ihr als intelligente Dienste (Smart Services) zur Verfügung gestellt werden. In den komplett digitalisierten Fabriken der Industrie 4.0 werden permanent Sensordaten in Entwicklungs- und Produktionssystemen erfasst. Werden diese Daten analysiert, erlauben sie Aussagen darüber, wie sich das System in der Zukunft entwickeln wird. Sind meine Produktionsprozesse pünktlich? Laufen meine Prozesse Gefahr, fehlerhaft zu werden? Das vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Projekt „Smarte Techniker-Einsatz Planung (STEP)“ beruht auf dieser Vorgehensweise. Allein durch die Fernauswertung der produktionsbegleitenden Sensordaten können Servicetechniker zum richtigen Zeitpunkt entsandt und die benötigten Reparaturmaterialien vor Ort bereitgestellt werden, um einen Produktionsausfall gar nicht erst entstehen zu lassen.
„Wir leben heute in einer digitalen Marktwirtschaft“, ist Professor Mädche überzeugt. Die Digitalisierung macht es möglich, über eine schier unendliche Menge an Informationen in Echtzeit zu verfügen und dadurch den Automatisierungsgrad zu erhöhen und innovative digitale Produkte und Dienstleistungen zu realisieren. Neben den Chancen behalten die Forscher auch die Risiken der Digitalisierung im Blick. Das spiegelt die kürzlich geschlossene Forschungsallianz „Digitalisierung: Transformation sozio-ökonomischer Prozesse“, kurz ForDigital, wider, die zwischen dem KIT und der Universität Mannheim geschlossen und am 5. Juli offiziell gestartet wurde. Die Initiative wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg gefördert und vernetzt die Wissenschaftler beider Einrichtungen sowie weitere Partner. Neben der digitalen Transformation der Wirtschaft stehen hier Individuum und Gesellschaft im Fokus, beispielsweise mit den Potenzialen und Veränderungen hinsichtlich Gesundheit und Wohlbefinden, der Gestaltung positiver Nutzungserlebnisse (User Experience), rechtlichen Aspekten sowie volkswirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Es gilt, neben den Chancen auch die Herausforderungen zu erkennen und mögliche Gefahren zu verstehen. „Der Weg zu einer fairen und nachhaltigen Digitalisierung ist noch lange nicht am Ende, ein interdisziplinäres Zusammenspiel der universitären Disziplinen zur Gestaltung der Digitalen Transformation im Sinne der Menschen und der Gesellschaft ist entscheidend“, sind sich Professor Mädche und Professor Sure-Vetter einig.
The text was written by Gereon Wiesehöfer.
Excerpt in English
Digital Transformation
How Science Accompanies the Rapid Change of Industry and Society
Translation: Maike Schröder
“It is one of the very big challenges of the present to comprehensively study all aspects of digitization and actively seize the opportunities associated with it,” says Professor Alexander Mädche, Professor for Business Informatics of the Institute of Information Systems and Marketing (IISM) of KIT’s Department of Economics. His research focuses on digital transformation of industry and, hence, is in close contact with manufacturing and applications companies. “We analyze how the endless abundance of real-time information has to be processed and presented for the user having the right situation awareness and making the right decision on this basis.” In another project, he studies how beneficiaries of a system can participate in the acquisition of data by e.g. creating incentives (gamification).
Professor York Sure-Vetter, who works at the KIT Institute of Applied Informatics and Formal Description Methods (AIFB) among others, concentrates on the technical level of digitization: “Our research pursues three lines. One question is how knowledge is represented in the web and how we can make it understandable and usable for machines, the keyword being semantic web. We also analyze how we can make machines capable of learning knowledge, the keyword being machine learning. Finally, we want to make our findings and knowledge available to industry in the form of smart services.”
Apart from the opportunities, the researchers also study the risks and challenges of digitization. An example is the recently established research alliance “Digitization: Transformation of Socioeconomic Processes,” also known as ForDigital, in which both professors are involved. Apart from digital transformation of industry, this alliance focuses on the individual and society.
Artikel aus der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins LooKIT, Edition 2/2016, Schwerpunkt Mobilität.
Article within the current edition of the science magazine LooKIT on mobility at the Karlsruhe Institute of Technology, Edition 2/2016.
Photos: Markus Breig, Patrick Langer