Visionary of the Information Society

On Karl Steinbuch's 100th Birthday

Article within the current edition of the KIT magazine lookKIT on information at the Karlsruhe Institute of Technology, Edition 3/2017. The text was written in German, an excerpt is available in English at the end of the text.

 

„Unsere Gesellschaft muss sich ändern in ihren Grundsätzen, in ihrem politischen Stil und vor allem im Bildungssystem.“ Mit dieser Forderung beginnt Karl Steinbuchs „Programm 2000“, in dem er 1970 seine Zukunftsvision für die Bundesrepublik Deutschland formulierte. Steinbuch schreibt unvergleichlich direkt und aus heutiger Sicht undiplomatisch; seine Texte zu lesen ist schockierend und faszinierend zugleich. Wie genau er sich schon damals vorstellte, dass wir heute mit Geräten wie Smartphones kommunizieren würden, ist verblüffend. Allerdings galt ihm die Zukunft als „Feld harter Arbeit“ und die meisten Menschen – so meinte er – bevorzugten eher einen Wunschzettel. Und doch scheint er den Nerv seiner Zeit getroffen zu haben, denn seine Publikationen verkauften sich gut, und sein Buch „Falsch programmiert. Über das Versagen unserer Gesellschaft in der Gegenwart und vor der Zukunft und was eigentlich geschehen müsste“ stand 1968 auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. „Steinbuch lebte in der reinen Gegenwart und interessierte sich ausschließlich für die Zukunft, nicht für irgendeine Vergangenheit. Diese radikale Form der Geschichtslosigkeit trug einerseits zu Steinbuchs Erfolg bei, definiert andererseits aber seine Grenze als Gegenwartskritiker und Visionär in seiner Zeit“, sagt Professor Rolf-Ulrich Kunze, Historiker am Institut für Geschichte des KIT. Für ihn ist die Beschäftigung mit Karl Steinbuch ein Beispiel, das auf das für die Zukunft der Technik vielleicht wichtigste Arbeitsfeld am KIT hinweist, nämlich „die Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihres Gelingens oder Scheiterns“.

 

Die Person Karl Steinbuchs ist ambivalent: Einerseits sind seine wissenschaftlichen Leistungen herausragend, doch sind seine Vorschläge, wie die technischen Neuerungen in der Gesellschaft verwirklicht werden sollen „technokratisch und undemokratisch gedacht“, so Kunze. Schon in der Zeit seines Bestsellererfolgs erregte Steinbuch ähnlich grundsätzliche Kritik. Allerdings kam diese oft von Vertretern politisch weit exponierter Positionen. Die Zustimmung zu Steinbuchs Thesen war hingegen auf ein breites Spektrum verteilt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass der gegen Ende der 1960er-Jahre der SPD nahestehende Steinbuch nach der Bundestagswahl von 1969 als Kandidat für das Ressort Bildung und Wissenschaft im Kabinett des Bundeskanzlers Willy Brandt gehandelt wurde. Bei der von Steinbuch beschriebenen „allgemeinen Verkalkung“ der Gesellschaft kommt der Politik die Aufgabe zu, technisches Expertenwissen umzusetzen. Als Techniker, Wissenschaftler und Forscher sah sich Steinbuch in der Pflicht, für den Fortschritt und die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Landes einzutreten. „Für Steinbuch war Technik keine soziale und politische Konstruktion, sondern ein rationaler Sachzwang. Er war in gesellschaftlich-politischer Hinsicht als Utopist zugleich visionär und reaktionär“, meint Rolf-Ulrich Kunze. Diese Ambivalenz Steinbuchs nun darzustellen, sei wichtig für das KIT, sagt der Historiker, nicht zuletzt, weil so ein großes Institut wie das Rechenzentrum nach Karl Steinbuch benannt wurde: „Wir müssen als Universität offen mit einer solchen Ambivalenz umgehen und dürfen sie nicht unter den Teppich kehren.“

 

Karl Steinbuch wurde am 15. Juni 1917 in Cannstatt bei Stuttgart geboren. Nach seinem Physikstudium in Stuttgart und Berlin arbeitete er als Entwicklungsingenieur bei Standard Elektrik Lorenz, einer Kommunikationstechnikfirma. Dort baute er das sogenannte „Informatik-System“, das beim Versandhaus Quelle eingesetzt wurde. Von einem Computer war es noch weit entfernt, doch fiel hier zum ersten Mal der Begriff „Informatik“, den Steinbuch als Synonym für „automatische Informationsverarbeitung“ verwendete. Als Steinbuch im Frühjahr 1958 Professor in Karlsruhe wurde, gab es an der damaligen Technischen Hochschule noch keinen Computer. Eine Zuse Z22 wurde gerade am Institut für Angewandte Mathematik angeschafft. Als Professor für Nachrichtenverarbeitung und -übertragung stellte Steinbuch einen Elektronischen Rechenautomaten ER-56 auf. Er war einer der ersten, die das digitale Zeitalter sozusagen „einschalteten“. Dass es hier bald eine ganze Fakultät für Informatik geben sollte, war noch nicht abzusehen. Steinbuch hatte schon in jungen Jahren in Stuttgart und dann in Karlsruhe über siebzig informationstechnische Patente angemeldet. Eines davon war im September 1960 die Lernmatrix, seine wohl wichtigste Erfindung. Sie ist ein Vorläufer der neuronalen Netze und der künstlichen Intelligenz; eine konzeptionelle Keimzelle der lernfähigen Systeme. Sein Institut für Nachrichtenverarbeitung und Nachrichtenübertragung, aus dem das heutige Institut für Technik der Informationsverarbeitung (ITIV) am KIT hervorgegangen ist, forschte im Bereich der Anwendungen von automatischer Zeichenerkennung, wie sie zum Beispiel für die Kopier- und Faxtechnik gebraucht wird. Mitte der 1960er-Jahre gelang es, aus Filmaufnahmen automatisch bestimmte Strukturen zu erkennen, ohne dass ein Mensch die Bilder ansehen musste.

 

Steinbuchs Visionen der Vernetzung von Computern untereinander und von Computern mit Gegenständen sahen bereits die Entwicklung von Suchmaschinen, Industrie 4.0 oder dem Internet of Things beeindruckend deutlich voraus. Der Leiter des ITIV, Professor Jürgen Becker, zeigt den Seminarraum des Instituts, in dem die Stammtafel der Institutsleiter und ihrer Doktoranden an der Wand hängt. Ganz oben beginnt alles mit Karl Steinbuch. Sein Andenken wird hier hochgehalten: „Er hat das Institut geprägt, und dass es national und international eine führende Rolle einnimmt, ist auch ihm zu verdanken. Er hat ja auch eine ganze Reihe Preise verliehen bekommen, die zeigen, was er wissenschaftlich geleistet hat.“ Für seine Vorlesung im Fach Digitaltechnik, die auch Karl Steinbuch einst gehalten hat, nimmt Becker gern Steinbuchs „Taschenbuch der Informatik“, dessen Vorläufer 1962 als „Taschenbuch der Nachrichtenverarbeitung“ erschienen ist, zur Hand: „Es erklärt Sachen wie den Transistor zeitlos und didaktisch hochwertig. Das sind Erklärungen von jemandem, der die Dinge nachhaltig mitgestaltet hat.“ Am ITIV ist die originale Hardware der Lernmatrix von Karl Steinbuch ausgestellt, ein künstliches neuronales Netzwerk aus dem Jahr 1960, zur Anschauung und als Denkmal der Technikgeschichte. 22 Jahre lang leitete Steinbuch das Institut für Nachrichtenverarbeitung und Nachrichtenübertragung in Karlsruhe, eine Zeit lang hatte er eine Forschungsgruppe für technische Prognosen. Dort arbeitete Dr. Günter H. Walter als wissenschaftliche Hilfskraft. Er betreute die Bibliothek und half bei der Vorbereitung der interdisziplinären Vorlesung „Mensch, Technik, Zukunft“, zu der es auch eine gleichnamige Publikation und eine Fernsehsendung mit Steinbuch gab: „Er war überzeugt von sich“, erzählt Günter H. Walter, „er war schräg. Er war der klassische Professor, der durch die Gänge sauste und die Assistenten hinter ihm her. Ich habe ihm viel zu verdanken, nicht weniger als meine Karriere als Wissenschaftler bei der Fraunhofer-Gesellschaft.“ Walter ist heute Lehrbeauftragter für Technikentwicklung am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale. Steinbuchs Verdienst sei es vor allem, dass er sich als gestandener und sehr bekannter Wissenschaftler ernsthaft zur Zukunftsforschung bekannt habe und damit in Karlsruhe Einrichtungen wie dem Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des KIT und dem Fraunhofer-Institut für Systemund Innovationsforschung den Boden bereitet habe. Außerdem habe er erkannt, wie sehr die Informationstechnologie die gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen würde: „Für mich ist Karl Steinbuch ein 68er-Reformer. Er drängte darauf, dass die Politik Technologien stärker in die Gesellschaft integrieren müsse.“ In späteren Jahren habe Steinbuch sich politisch isoliert gefühlt, meint Walter. Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass er sich immer mehr zur rechten Seite des politischen Spektrums bis hin zu Randpositionen orientierte. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1980 schloss Steinbuch sich rechtskonservativen und neurechten Bewegungen an, war Mitbegründer des Schutzbundes für das Deutsche Volk und veröffentlichte regelmäßig Artikel in rechten Zeitschriften.

 

Karl Steinbuch ist ein Beispiel dafür, wie nah universitäre Forschung an Politik dran ist; als in der alten Bundesrepublik über hundert Lehrstühle für Informatik eingerichtet werden sollten, gingen neun davon nach Karlsruhe. 1969 wurde hier das erste Institut für Informatik in Deutschland gegründet, im Jahr 1972 eine Fakultät mit vier Instituten. Für das KIT entsteht aus der Gemengelage der sehr hoch einzuschätzenden Verdienste Steinbuchs auf der einen Seite und der Distanz gegenüber den nach seiner Emeritierung bekundeten politischen Extrempositionen auf der anderen eine wichtige Aufgabe, die als Herausforderung durchaus verstanden und angenommen wird. Dazu Kunze: „Es ist für Zeitzeugen immer hart zu sehen, dass es mehr als die geschätzte Seite an einer bekannten Person gibt. Die Verantwortung des Historikers liegt, soweit es geht, im ganzen Bild. Das entsteht nicht allein durch Akten- und Publikationsstudium, sondern selbstverständlich auch im Gespräch mit Zeitzeugen. Wir müssen diesen Dialog auch im Respekt vor Lebensleistungen führen, nicht nur Steinbuchs, sondern auch anderer. Das ist ein schwieriger, schmerzhafter und langwieriger Prozess. Aber er lohnt sich, weil wir am Ende mehr über uns und unsere Institution wissen. Das ist es, worum es eigentlich geht.“ Die Informationstechnik leistet heute einen wesentlichen Beitrag zu den profilschärfenden Themen des KIT und die entsprechenden KIT-Fakultäten liegen in nationalen sowie internationalen Rankings regelmäßig auf Spitzenplätzen. Das ist nicht zuletzt den Arbeiten von Karl Steinbuch zu verdanken, die diese Disziplin bis in unsere Zeit prägen.

 

Mit einer Feier zum 100sten Geburtstag von Karl Steinbuch am Institut für Technik der Informationsverarbeitung ehrte das KIT den Pionier der deutschen Informatik. Den Festvortrag hielt Professor Hasso Plattner, Alumnus des KIT, Mitbegründer und Aufsichtsratsvorsitzender des Softwareunternehmens SAP.

 

 

Fotos: Amadeus Bramsiepe, KIT-Archiv, Markus Breig, und Gernot Drücke Ettlingen

 

Excerpt in English

On Karl Steinbuch's 100th Birthday

Translation: Ralf Friese

 

Karl Steinbuch, who would have turned 100 on June 15, was a man of contrasts: On the one hand, his scientific achievements are outstanding; on the other hand, his proposed implementation of technical innovation in society is technocratic and undemocratic. “Steinbuch saw technology not as a social or political structure but as the consequence of rational thinking. In socio-political respects, he was Utopian, both visionary and reactionary at the same time,” says Rolf-Ulrich Kunze, historian at the KIT Institute for History. Describing this duality was important to the KIT also because a large institute, such as the SCC (Steinbuch Centre for Computing), bore Karl Steinbuch’s name.

 

Steinbuch was born in Cannstatt near Stuttgart. After having studied physics at Stuttgart and Berlin, he worked as a development engineer with Standard Elektrik Lorenz. This is where he built the so-called “Informatik-System” used by Quelle, the mail order company. It was far from being a computer, but it was named “Informatics” by Steinbuch for the first time as a synonym of “automatic information processing.” When Steinbuch became a professor at Karlsruhe in the spring of 1958, there was not even a computer available at the then Technical University. As a professor of communications processing and telecommunication, Steinbuch installed an electronic computer, ER 56. He was one of the first people to “switch on” the digital age. As a young man, Steinbuch registered more than 70 patents in information technology. One of these was the learning matrix, probably his most important invention. It is a forerunner of neural networks and artificial intelligence. Steinbuch’s visions of interconnected computers and computers connected to objects foresaw search engines, Industry 4.0, and the Internet of Things. The head of the Institute for Information Processing Technology, Professor Jürgen Becker, shows the seminar room: “He decisively influenced this Institute; its leading role both nationally and internationally is also due to his work.”

 

Steinbuch headed the Institute of Communications Processing and Telecommunication at Karlsruhe for 22 years; for some time he ran a research group for technical forecasting. Dr. Günter H. Walter worked as a scientific assistant at that institute: “He was the classical professor,” reports Günter H. Walter, “who raced through the corridors with his assistants in his wake. I owe him a lot, nothing less than my career as a scientist with the Fraunhofer Society.” Today, Walter is a lecturer for technology development at the Centre for Cultural and General Studies (ZAK). One of the key merits of Steinbuch as a renowned, very famous scientist had been to embrace futurology, thus paving the way at Karlsruhe for institutions like ITAS and the Fraunhofer Institute of Systems and Innovation Research.

 

Pictures by: Amadeus Bramsiepe, KIT-Archiv, Markus Breig, and Gernot Drücke Ettlingen